NEUHOF Noch im Jahre 1958 bekam man auf der
Siedlung Platte nur Post, wenn der Absender als Teil der Adresse
Neu-Dotzheim" angegeben hatte. Kein Wunder also, dass die Nachfahren der
ersten Siedler noch heute ihr Dotzheimer Platt" pflegen, wenn sie von den
wahrlich abenteuerlichen Anfängen der Siedlung erzählen. Manchmal meint
man sich an Wild West-Geschichten erinnert, wenn von Rodungen, Sprengungen
und dem Hausen in elenden Hütten oder gar Erdhöhlen die Rede ist. Die
Rolle der Indianer" in dieser Geschichte nehmen übrigens die Neuhofer ein,
die nämlich verband viele Jahre lang eine herzharte Abneigung zu den
Einwohnern auf der Siedlung Platte. In Neuhof habe man nur das Pack"
geheißen, erinnert sich eine Enkelin eines der Siedler noch heute. In der
Neuhofer Schule habe das Fräulein Lehrerin immer nur die Sauberkeit der
Hände der Siedlungskinder kontrolliert.
Doch der Reihe nach: Um der Not nach dem Ersten Weltkrieg zu entfliehen,
nahmen 18 Dotzheimer Familien im Jahre 1920 das Angebot der damals noch
selbständigen Gemeinde an und siedelten auf dem von Dotzheim auf der
Siedlung Platte gekauften Areal. Zehn Morgen Land bekam jeder Siedler -
Land, das erst noch gerodet und urbar gemacht werden musste.
Unvorstellbare Strapazen mussten die ersten Neu-Dotzheimer" im Untertaunus
auf sich nehmen, um für sich und ihre Familien ein neues Zuhause zu
schaffen. Nicht wenige hausten zunächst in provisorischen Hütten aus
Schilf oder einigen Brettern, sogar von Erdhöhlen ist die Rede. Die
Dotzheimer Zeitung berichtet am 18. Juni 1921 recht lebendig von Hütten
von grotesker Gestalt und Form aus Lehmerde, Brettern, Stangen mit
Lehmbewurf und Betonwänden sowie Dächern mit Stroh- und Pappbelag". Und
der Chronist weiter: Dotzheimer Kolonisten sind hier bei der Arbeit, um in
zähem Fleiß den Waldurboden der menschlichen und tierischen Ernährung
zugänglich zu machen, um in freier, gesunder und schöner Natur ein eigenes
Anwesen zu gründen und um eine eigene Scholle zu besitzen für die Familie
und Nachkommenschaft." Guten Willen, eine Schippe und eine Hacke habe er
gebraucht, erinnerte sich im Jahre 1989 der damals letzte noch lebende
Neu-Dotzheimer", Karl Krau. Es waren schwere Zeiten", so sein Fazit.
Triebfeder der Aktion war der Dotzheimer Bürgermeister Sporkhorst, dem
es gelungen war, 181 Morgen Land einschließlich Feldwegen zwischen Platte
und Neuhof zu kaufen. Womit er sich sogleich den Unmut der Gemeinde Neuhof
zuzog, denn auch diese hatte das Land haben wollen. Per Losentscheid wurde
in Dotzheim dann das Gelände auf 18 Kolonisten verteilt, sieben Familien
hielten schließlich die Strapazen der folgenden Jahre durch, sie sind die
tatschlichen Urväter" der heutigen Siedlung Platte: August Birk, Fritz
Schrauth, Karl Krau, Georg Kneiper, Fritz Kuntze, Ludwig Jantz und Johann
Schiffer.
In der Dotzheimer Zeitung wird am 18. Juni 1921 von deren Anfängen
berichtet: Fast jeder Kolonist hat schon im Äußeren eine andere Form für
seine und des Kleinviehs Wohnung gewählt und einer von dem anderen
gelernt. |
Bei keiner Hütte fehlt der Wachhund und dieser ist in allen
Rassenverschiedenheiten vertreten, Ziegen- und Hühnerzucht wird von allen
Siedlern betrieben, man findet auch vereinzelt Schafe-, Schweine- und
Hasenzüchtung sowie Kuh- und Pferdehaltung vor." Auch erste Gärten
waren bereits angelegt, doch deren Ertrag war noch recht kümmerlich..
Die ganze Familie musste mithelfen, ein neues Heim zu bauen- So kam es nicht
selten vor, dass der Vater mit dem Hausbau auf der Siedlung beschäftigt
war, während die Mutter das Essen noch im alten Haus in Dotzheim kochte.
Es war dann Aufgabe der Kinder, das Mittagsmahl in einem zweieinhalbstündigen
Fußmarsch über Klarenthal und durch den Teufelsgraben auf die
Siedlung zu bringen. Manchmal hat deshalb der Lehrer Faust die Kinder der
Siedler etwas früher gehen lassen. War Geld im Haus, dann durften die
Essenslieferanten auch schon mal mit der Aartalbahn bis Hahn fahren, um
dann den Rest bis zur Siedlung Platte zu laufen- Doch wann war schon Geld
im Haus...
Die gerodeten Bäume verkauften die Siedler an Bäcker in Dotzheim, die
damit ihre Öfen befeuerten. Mit dem Geld konnte dann Baumaterial beschafft
werden. Wasser musste in den ersten Jahren direkt vom Schwarzbach geholt
werden. Schließlich bauten sich die Kolonisten aus alten Beständen der
englischen Armee eine eigene Leitung.
Trotzdem blieb das Wasser eine permanente Sorge. Erst mit der städtischen Leitung
Mitte der 60-er Jahre wurde es gelöst. An einen regelrechten
Wasserkrieg erinnern sich die Nachkommen der Kolonisten, dann nämlich,
wenn der Druck in der Leitung nicht ausreichte und in den Häuser am höher
gelegenen Waldrand nichts mehr ankam. So kam es dann schon mal vor, dass
eine erboste Siedlersfrau nachts durch die Gärten streifte und wütend
der Nachbarn Gartenschläuche zerschnitt.
Mit der Besiedlung von Neu-Dotzheim kamen schon bald auch die ersten
Sommergäste, die die gute Luft und die Ruhe des Untertaunus zu schätzen
wussten. Weshalb so ziemlich jedes Kolonistenhaus im ersten Stock auch
Fremdenzimmer hatte, die mit Vorliebe an wohlhabende Wiesbadener
Beamtenfamilien vermietet wurden. Die Segelflieger auf der Siedlung
Platte waren dann 1960 die Auslöser für die ersten Wochenendhäuser von
Wiesbadener und Mainzer Geschäftsleuten.
Inzwischen ist die Siedlung immens gewachsen, neue Häuser schießen aus dem Boden.
Die sieben Häuser der Dotzheimer Auswanderer stehen allerdings
immer noch ein wenig abseits, auch wenn sie längst eine richtige Adresse
haben. Offiziell gehren sie zu Taunusstein, doch daran haben sich die
meisten ihrer Bewohner noch immer nicht gewöhnt.
Wiesbadener Kurier,
Redakteur Mathias Gubo
Artikel Samstag 30. Juni 2001 (Text),
fast identisch noch einmal veröffentlicht am 8. Februar 2020
(Text,
Scan
und Bild) |